Ich habe dich nicht erkannt
Ich gestehe, Herr,
dass ich Dich nicht erkannt habe,
damals am Bahnhof Salzburg,
es war aber auch nicht leicht.
Du hattest schmutziges Haar,
und der Geruch war fast nicht erträglich.
An Deinen Armen klebte Blut,
wahrscheinlich warst Du auch unheilbar krank.
Und einige Huren brachten Dir Geld,
das brauchtest Du dringend
für den nächsten Schuss.
Du schliefst mit halboffenen Augen,
eine Grapefruit stahlst
Du Dir am Markt,
ein Alkoholkranker gab Dir
eine selbstgedrehte Zigarette.
Die Polizei ließ Dich vorerst
noch schlafen;
sie hatte Dich aber schon im Auge.
Ich habe Dich nicht erkannt,
Herr,
hätte es bis heute nicht gewusst,
wenn nicht unsere
Vorsitzende des Pfarrgemeinderates
gesagt hätte,
„mein Gott, was für ein Mensch!“
Als ich diese Formel
ins Lateinische übersetzte,
erkannte ich Dich,
denn sie hieß: Ecce homo!
Da war es mir klar.
Verzeih, Herr!
Helmut Stefan Milletich
(Psalm 15, geschrieben 6. September 1989 in Winden am See)