
Predigt zum Martinsfest im Haus St. Martin und in der Michaelerkirche in Wien
Eine bekannte Redewendung sagt: "Zeit hat man nicht – Zeit nimmt man sich!" Wie oft klagen wir alle im Alltag, dass wir für dies oder jenes keine Zeit haben, wenn wir uns die Zeit dafür nicht nehmen. Und wie oft sind wir glücklich, wenn wir uns für jemanden oder etwas Zeit nehmen und schöpfen Freude und Kraft aus dieser Begegnung, ja wir erfahren, dass es eine gut investierte Zeit war. Unser Landes- und Diözesanpatron der hl. Martin von Tour – dem auch dieses unser Altenwohnheim der Caritas hier in Eisenstadt geweiht ist – war ein Mensch, Christ, Mönch und Bischof, der bestimmt nicht mehr oder weniger Zeit hatte als wir, der sich aber in seinem Leben bewusst Zeit genommen hat.
Aus der Biographie von Sulpicius Severus können wir deutlich sehen, wofür Martinus Zeit hatte und sich in seinem Leben auch Zeit nahm. Es sind 3 Dinge:
Martinus hatte Zeit für Gott. Was heißt das und wie zeigte sich das? Vom Biographen wissen wir, dass seit seiner Begegnung mit dem Bettler und dem darauffolgenden Traum, in ihm Christus begegnet zu sein, immerfort auf dem Weg zu Jesus gewesen, ihm immer tiefer verbunden und immer ähnlicher geworden ist. ist in seinem Herzen immer beim Herrn gewesen. Das heißt, er hat die Nähe Gottes gesucht, hat sich in die Stille zurückgezogen zum Gebet, zum Lesen und Betrachten der Heiligen Schrift, zur Meditation, zum Gottesdienst und zur Feier der Sakramente. Das alles heißt, sich Zeit zu nehmen für Gott. Wir alle wissen, wie wichtig und notwendig das alles für unseren Glauben ist. Wir alle erleben im Alltag, wie schwer es uns fällt, sich Zeit für Gott zu nehmen. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, wie viel Zeit wir für alle möglichen Dinge haben, die uns dringender und scheinbar wichtiger sind, als die Zeit für Gott. Wie heißt es: "Zeit hat man nicht – Zeit nimmt man sich!" Breitet sich nicht deshalb auch in uns und in der Welt die Gottesvergessenheit und Gottesfinsternis aus, weil wir uns nur wenig/keine Zeit für Gott nehmen? Martinus zeigt uns mit seinem Leben: Wer sich Zeit nimmt für Gott, der hat im Leben und im Glauben Orientierung, Freude am Menschsein und Christsein sowie Mut zum Zeugnis und dem geht auch nicht die Luft aus, der hat den langen Atem!
Martinus hatte Zeit für die Mitmenschen. Was heißt das und wie zeigt sich das? Vom Biographen wissen wir, dass Martin die Liebe zum Glauben geführt hat und dass sich sein Glaube in Liebe zu den Mitmenschen ausgedrückt hat, indem er den ihm anvertrauten Menschen als Seelsorger beigestanden ist. Die Mantelteilung mit dem Bettler ist das Symbol dafür! Martinus hat das in die Tat umgesetzt, wovon das heutige Evangelium spricht. Er hat Hungrige gespeist, Obdachlose beherbergt, Nackte bekleidet, Kranke und Gefangene besucht, Tote begraben und Almosen gegeben. Er hat die Werke der Barmherzigkeit gelebt und damit Licht in unsere Welt gebracht! Jeder und jede von uns – besonders alte, kranke und alleinstehende Menschen zu Hause, in Altenwohnheimen oder Krankenhäusern – warten oft schwer auf einen lieben Menschen, der sie besucht, mit ihnen spricht, für sie Zeit hat. Wie groß ist die Freude über einen Besuch und wie traurig und enttäuscht ist man, wenn niemand kommt!? Wer weiß das besser, als ihr hier im Altenwohnheim! Martinus fragt uns mit seinem Leben: Wann war deine letzte gute Tat? Wann hast du dir Zeit genommen für die Mitmenschen, indem du die im Evangelium genannten Werke der Barmherzigkeit gelebt und in die Tat umgesetzt hast?
Zeit haben für die Mitmenschen heißt ganz konkret, Zeit haben für die uns Nächsten in Familie, Nachbarschaft und Beruf – für die uns Anvertrauten. Der Biograph zeigt diese Zuwendung Martins deutlich, wenn er sich als Soldat dem Bettler, als Mönch und Bischof seinen Mitbrüdern und Pfarrgemeinden zuwendet. Seine letzte Missionsreise vor seinem Tod führte ihn in die Pfarre Candes, wo er unter den Geistlichen und in der Pfarrgemeinde Frieden stiftete. Verarmen/zerfallen unsere Familien und Gemeinschaften, auch Pfarrgemeinden, oft nicht auch deshalb, weil wir wenig/keine mehr füreinander haben?
Martinus hatte Zeit für sich selber. Was heißt das und wie zeigt sich das? Vom Biographen wissen wir, dass Martin viel Zeit in der Zurückgezogenheit und Stille verbrachte, dass er sich aus dem Lärm und Trubel des Alltags nach dieser Oase der Ruhe und des Friedens sehnte und sie immer wieder auch aufsuchte. ist nicht als Weltfremder aus dieser Welt geflüchtet, sondern er hat sich Zeit für sich selber genommen, um sich seiner Wurzeln, Aufgabe und Sendung bewusst zu werden und sie zu erfüllen. So konnte er sich die Einfachheit des Herzens bewahren und für die ihm anvertrauten einfachen Menschen leben. So suchte er nicht den Beifall, beugte sich nicht den herrschenden Meinungen und war hellsichtig in der Unterscheidung der Geister. So diente er glaubwürdig, furchtlos und freudig der Wahrheit. Sind wir heute nicht versucht, in zwei Extreme zu fallen: nur mehr um uns selber zu kreisen und uns narzisstisch mit uns selber zu beschäftigen oder nur mehr in der Aktion aufzugehen, die uns oberflächlich, blind werden lässt und uns aushöhlt? hingegen zeigt uns mit seinem Leben: Wer Zeit hat für Gott, der hat auch Zeit für sich selber und der nimmt sich auch Zeit für seine Mitmenschen. Vernachlässigen wir uns nicht selber, nehmen wir uns Zeit für uns selber und stellen wir uns den wichtigen Fragen des Lebens und Glaubens! Betäuben wir uns nicht einfach mit Konsum, Aktionismus und oberflächlicher Unterhaltung, damit wir nicht ausbrennen und ins Burn-out fallen! Muten wir uns wie Martin Zeit für uns selber zu und nehmen wir uns auch diese Zeit!
Christen sind heute wie Martinus eingeladen und herausgefordert, sich Zeit zu nehmen für Gott, die Mitmenschen – vor allem die uns Anvertrauten – und für uns selber. Unsere Kirche und Welt braucht mehr denn je solche Menschen! Martinus hat es uns in alter Zeit vorgelebt und gezeigt, dass es möglich ist. Er erinnert uns heute an seinem Festtag wieder daran: "Zeit hat man nicht – Zeit nimmt man sich!" Nützen wir wie Martinus, die uns geschenkte Zeit!
Als Bischof danke ich allen hier im Haus St. Martin, die sich Zeit nehmen für Gott, die konkreten Mitmenschen und für sich selber. Besonders danke ich den Verantwortlichen, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Caritas, den Förderern und Freunden sowie den Seelsorgerinnen und Seelsorgern hier und in allen Einrichtungen in unserer Diözese für ihren unermüdlichen Einsatz, alle treuen Dienste und ihre konkrete Martinstat – Vergelt´s Gott! Amen.