Der Himmel ist strahlend blau
Der Himmel ist strahlend blau – kaum Wolken am Himmel und von den Kondensstreifen, die Flugzeuge normalerweise in rauen Mengen hinterlassen, schon seit einiger Zeit keine Spur. Dieser Anblick, den viele andere sehr wahrscheinlich als wunderschön bezeichnen würden, schmerzt mich als Piloten sehr. Denn die fehlenden Streifen im makellosen Azurblau dieses sonnigen Tages bedeuten für mich, dass sich mein Alltag noch länger nicht normalisieren wird. Ein Pilot ohne Passagierflüge bedeutet für eine Firma vor allem eines: ein nicht lukratives Zahnrad in einem riesigen Uhrwerk, das derzeit alles andere als geschmiert läuft.
Wie viele meiner Kollegen und Kolleginnen wurde ich von der Firma in Kurzarbeit geschickt, was mir zumindest einen Teil meiner Einkünfte sichert. Trotzdem weiß ich, dass eine Kündigung nicht ganz unwahrscheinlich ist, wenn die Sicherheitsbeschränkungen zum Zwecke der Eindämmung des Coronaviruses noch länger aufrecht bleiben. Ich bin von klein auf Optimist, doch hat mich das Leben gelehrt, dass die Welt leider trotzdem viele unangenehme Überraschungen für einen bereithält, selbst wenn man das Glas immer als halb voll betrachtet – oder es zumindest versucht.
Meine Frau und ich haben uns vor zwölf Jahren kennen- und lieben gelernt. Zwei Jahre später folgte die Traumhochzeit, die sie sich immer gewünscht hatte und bei dir ich vor allem glücklich war, ihr diese ermöglichen zu können. Dass wir Kinder wollen war immer klar für uns und vom ersten Tag als Frischvermählte eines unserer Hauptthemen. Leider hat das Schicksal es nicht allzu gut mit uns gemeint – nach zwei Fehlgeburten, die nicht nur meine Frau, sondern auch mich furchtbar schmerzten und uns in ein tiefes emotionales Loch haben fallen lassen, aus dem sich besonders meine Frau nicht gerade unbeschadet hinausgehievt hat, waren wir beim dritten Mal endlich sicher: Dieses Mal wird alles klappen - wir werden Eltern! Unsere kleine Tochter Maja kam zwar im Gegensatz zu ihren Geschwistern, die wir liebevoll als unsere Sternenkinder bezeichnen, lebend auf die Welt – jedoch um einige Monate zu früh. Schnell war klar, dass unsere kleine Tochter zwar jeden Tag so sehr mit der Sonne um die Wette strahlen kann, dass unsere Herzen mit so viel Stolz und Freude erfüllt werden, wie wir es uns niemals hätten vorstellen können, doch leider hat sich auch genauso schnell herausgestellt, dass unsere Maja die Frühgeburt nicht ganz unbeschadet überstanden hat und ihr ganzes Leben lang auf unsere und auf die Hilfe von anderen angewiesen sein wird. Die Beeinträchtigung unserer Tochter hindert sie zwar daran, ihren Alltag alleine zu bewältigen, doch macht sie dieses Merkmal auch genauso besonders für uns. Maja kennt keinen Hass, keine Eifersucht, keine Unzufriedenheit oder Sorgen. Sie nimmt die Welt, das Leben und alle Menschen, auf die sie trifft, so wie sie sind – und lernt uns Erwachsenen somit auch, wie sich ehrlich gemeinte Nächstenliebe anfühlt und was bedingungslose Liebe bedeutet.
So schön die Momente mit unserer kleinen Maja sind, so sind sie auch sehr intensiv und fordernd – so fordernd, dass meine Frau kurz nach der Geburt vor sechs Jahren ihren Job gekündigt hat um Maja die Vollzeitbetreuung zu garantieren, die sie braucht. Von diesem Zeitpunkt an wurde ich zum Alleinverdiener der Familie, musste nun nicht nur die laufenden Kosten begleichen, die wohl jeder kennt, sondern auch die vielen teuren Therapien, die unserer Maja helfen sollen, trotz ihrer Einschränkungen so viel zu lernen wie möglich. Urlaube sind seit Jahren kein Thema mehr und auch das Ausleben unserer Hobbies oder Treffen mit Freunden wurden zu selten gewordenen Luxusgütern. Unsere Eltern helfen uns so gut als möglich, greifen uns im Alltag unter die Arme und stärken uns den Rücken. Eine finanzielle Unterstützung unserer Familien wollte ich nie – weshalb ich mich noch mehr in die Arbeit gestürzt habe.
Das Fliegen war zwar anstrengend und hat mich oft um viele Erlebnisse gebracht, die meine Frau mit unserer Maja erfahren durfte, jedoch hat es mir auch die Möglichkeit gegeben, mal nicht nur Vater und Ehemann zu sein, sondern Pilot und Weltenbummler. Ich konnte an Orte reisen, die ich mir so nie hätte leisten können, Eindrücke sammeln, die ich immer wieder nachhause bringen konnte und habe versucht, diese Abenteuer in unsere kleine Welt zu dritt zu integrieren. So oft habe ich beim Fliegen von meiner kleinen Maja geträumt – doch genauso oft habe ich auch diese Stunden Freiheit genossen, in denen ich Herr der Lage sein kann und jedes noch so große Flugzeug dorthin steuern konnte, wo es landen sollte. Diese Fähigkeit, diese Macht, alles um sich herum beeinflussen zu können, die Kontrolle zu haben – dieses Gefühl nimmt ab, sobald ich wieder den ersten Fuß in unser trautes Heim setze, in dem unsere Tochter das Ruder in die Hand nimmt und ihr Tageszustand unseren Rhythmus bestimmt. Seitdem ich in Kurzarbeit geschickt wurde, ist fast jeder Tag ein solcher für mich. Das kleine Universum, das wir um unsere Tochter gebaut haben, oder vielmehr sie um uns, ist zwar eines, das ich niemals wieder missen müssen möchte – doch fehlen mir meine kleinen Höhenflüge, bei denen ich mal kürzer, mal länger in andere Welten ausbüchsen und ein wenig andere Luft atmen konnte.
Diese Zeit der Ungewissheit schlägt mir aber vor allem deshalb aufs Gemüt, weil ich nicht weiß, wie ich meine kleine Familie mit den gekürzten finanziellen Mitteln, die uns nun zur Verfügung stehen, durchbringen soll. Wie soll ich meiner kleinen Maja erklären, dass es von nun an vielleicht keine Therapiestunden im Hallenbad geben wird? Oder meiner Frau, dass sie nun vielleicht auch auf die Hilfe von Marika verzichten muss, die sie zumindest einmal die Woche im Haushalt unterstützt? Wie soll ich mich selbst von den innerlich an mir nagenden Selbstzweifel schützen, dem hässlichen Gefühl, als Familienoberhaupt, als Brotverdiener versagt zu haben? Während mich auch heute die immer gleichen Fragen quälen blicke ich auf meine Tochter, die mich so anlächelt, als würde sie genau wissen, was ihrem Papa gerade durch den Kopf geht. Sie braucht die Worte nicht mit ihrem Mund zu formen, um mir zu verstehen zu geben, was sie mir zu sagen versucht: „Alles wird gut, Papa.“
Ich nicke ihr zu, schaue wieder es dem Fenster, spüre Tränen in meine Augen aufsteigen, blicke auf den kondensstreiflosen blauen Himmel, der selbst von unserem kleinen „Majaversum“ aus zum Greifen nahe scheint und bin mir sicher: Alles wird gut – irgendwann…“