„Neuer Antisemitismus und alter Rassismus?“ Herausforderungen in der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus auf dem Hintergrund der Erfahrungen im christlich-jüdischen Dialog in Österreich
Referent: Univ.-Prof. i.R. Dr. Martin Jäggle, Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit
In diesem Vortrag Mitte März kam die Interpretation biblischer Texte als eine Frucht des Gedenkens zur Sprache: Die Gefahr besteht, dass ein Gegensatz zwischen dem Alten und dem Neuen Testament konstruiert wird. Dass Jesus in unserer christlichen Vorstellung alles Jüdischen entkleidet wird.
Wenn Jesus in einer gewissen kirchlichen Praxis, vielleicht unreflektiert, hervorgehoben wird oftmals in einem Gegenüber zu „den Juden“, dann greift das zu kurz:
Einerseits wird dadurch einem ungerechten Pauschalurteil Vorschub geleistet. Referent Jäggle erzählte von einer Gedenkfeier an einem Wiener Gymnasium, wo ein ehemaliger jüdischer Schüler davon berichtete, dass er in der Fastenzeit regelmäßig verprügelt wurde, nachdem im Religionsunterricht die Passionsgeschichte erwähnt worden war. Juden wurden generell als „Gottesmörder“ definiert.
Andererseits wird man damit auch dem Wert des Christentums selbst nicht gerecht. Etwas, was generell für das Zusammenleben gilt, muss auch in diesem Zusammenhang bedacht werden: Wenn andere abgewertet werden müssen, um sich von ihnen abgrenzen zu können, dann zeugt das von einem geringen Selbstwert. Hier bedarf es der Selbstreflexion, um das zu erkennen. Jäggles klares Plädoyer: „Es braucht eine Theologie, in der Identität nicht durch Abgrenzung entsteht.“
Eine solche Abgrenzung wurde vor 600 Jahren manifest. In der Theologie jener Zeit setzte sich die Überzeugung durch, dass die Juden Ketzer seien, Irrlehrer. Was eine ganz gewisse Atmosphäre prägte. Und überhaupt die Voraussetzung, die Motivation, schaffte für das Ereignis der „Wiener Gesera“: Denn somit konnte Herzog Albrecht V. es als seine Pflicht auffassen, gegen die Ketzer vorzugehen – wohingegen es früher seine Pflicht gewesen war, die Juden zu schützen: Nicht umsonst lag das Judenviertel in Wien direkt am Hof und hatten die Juden eigene Steuern zu entrichten.
Die Ausführungen des Präsidenten des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Österreich kreisten nicht von ungefähr um die Begrifflichkeit Gedenken bzw. Gedenkkultur:
Eine Gedenkkultur bedeutet nicht einfach, pflichtgemäß einen Jahrestag zu absolvieren. Gedenkkultur zielt darauf ab, dass die eigene Selbstreflexion angeregt wird. Und dass sich gerade auch junge Menschen selbst einbringen können im Sinne einer Teilhabe. Denn, auch wenn historisch bereits viel erforscht worden ist, so bleibt eine Frage dennoch offen:
- Was waren die Voraussetzungen dafür, dass man überhaupt begonnen hat, das zu gedenken?
- Was hat sich da verändert?
- Oder wer hat es verändert und die Rahmenbedingungen verändert?
Dem nachzugehen, das kann für Jugendlich interessant sein.
Prof. Jäggle erwähnte explizit den ökumenischen Hirtenbrief aus dem Jahr 2018 von Bischof Zsifkovics und Superintendent Koch „Gegen ein Schweigen, das zum Himmel schreit.“, veröffentlicht 80 Jahre nach den Novemberpogromen 1938, als eine wichtige Frucht des Gedenkens.
Denn wichtig ist es, betonte der Referent, Fragen zu stellen: Nach denen, die fehlen - die vielen Juden, die Roma, Sinti, die politisch Verfolgten, die Behinderten, die Regimekritiker, die Andersdenkenden und sonstigen Lebensunwürdigen. „Es ist nicht nur eine vergangene Geschichte, sondern der Verlust ist ein bleibender, ein bleibender Schaden an Leben und Lebendigkeit.“
Martin Jäggle wörtlich: „Gedenken: Das ist eine Art Wurzel, aus der dann etwas wächst. Was immer es sein wird. Und wir brauchen kulturelle Formen des Gedenkens, die immer neu belebt werden können auf Zukunft hin. Gedenken ist immer Zukunft, aber die Wurzel ist die Geschichte.“
Mag. Nikolaus Faiman, 02.04.2021