Leere Badewannen
Ich möchte über ein Thema schreiben, mit dem ich sehr offen umgehe, womit ich aber auch öfters anecke. Ich gehe mit diesem Thema sehr offen um, weil ich der Ansicht bin, dass es keine Charakterschwäche meinerseits ist und auch nicht meine eigene Schuld.
Ich habe Depressionen. Mein Hirn ist, so wie ich, einfach nicht gut in Chemie: die überlebenswichtigen Funktionen sitzen („Erst das Wasser, dann die Säure, sonst geschieht das Ungeheure!“) aber beim Rest schummelt sich mein Hirn durch das Leben wie ich mich durch Chemie in der Oberstufe1. Bin ich gut durchgekommen? Ja, schon, aber schön war es nicht.
Nach ein paar Jahren Erfahrung damit habe ich sie halbwegs im Griff, soll heißen, dass ich als halbwegs produktives Mitglied der Gesellschaft durchgehe und mich inzwischen so gut kenne, dass ich meine depressiven Episoden meistens antizipieren und meinen Alltag dement-sprechend modifizieren kann, sodass es nicht schlimmer wird. Aber auch wenn man es mir selten anmerkt, heißt das nicht, dass ich es selbst nicht merke.
Wenn man sich vorstellt, dass Gehirne wie Badewannen funktionieren und aus dem Wasserhahn Serotonin kommt, dann hat meine Badewanne keinen Stöpsel. Mein Hirn stellt zwar ausreichend Serotonin her, hält das aber offenbar nicht für eine notwendige Ressource und baut es daher sofort wieder ab. Ich kann also das Wasser voll aufdrehen, aber solange der Abfluss nicht zu ist, wird die Badewanne eben nicht voll. Ich kann nur versuchen, den Abfluss mit Handtüchern zuzustopfen: Sport, Sonne, gesunde Ernährung, Medikamente. Aber Stoff bleibt immer durchlässiger als ein Plastikstöpsel.
Und Corona hat mir zwei wichtige Handtücher weggenommen: einen strukturierten, routinierten Alltag und Sozialkontakte. Das hat mit dem Religionsunterricht insofern etwas zu tun, als dass ich nicht die einzige Person auf der Welt bin, die Depressionen hat, sondern auch viele Schüler*innen davon betroffen sind und gerade der Religionsunterricht im normalen Schulkontext diese zwei Handtücher bieten kann. Innerhalb der Corona-Krise ist es schwerer, diese bei-den Handtücher auch weiterhin anzubieten. Nicht nur ich, sondern auch viele Schüler*innen kämpfen gerade darum, nicht auf Grund zu laufen.
Schule gibt Struktur. Normalerweise gibt der Schulalltag eine Routine vor. Man muss jeden Tag zur gleichen Uhrzeit aufstehen, sich anziehen, essen. Eine gute Routine entlastet das Gehirn, weil es weniger Entscheidungen treffen muss. Entscheidungen zu treffen ist eine der anstrengendsten Dinge für das Gehirn, Routine reduziert also deutlich Stress.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass quasi alle Ressourcen für Menschen mit Depressionen darauf hinweisen, dass man sich selbst den Alltag strukturieren soll. Aber das ist schwer. Sich selbst einen Stundenplan zu erstellen und für dessen Einhaltung die einzige Kontrollinstanz zu sein, ist schon für psychisch gesunde Erwachsene durchaus eine Herausforderung. Für Schüler*innen, die ja noch Kinder und Jugendliche sind, deren Selbstkontrolle noch nicht ausgereift ist und durch die Pubertät auch noch erschwert wird, ist das eine noch größere Herausforderung. Und wenn dann noch Gefühle der Hoffnungslosigkeit, Angst und Sinnlosigkeit dazukommen, wie sie bei De-pressionen häufig sind, dann geht es manchmal einfach nicht. Ach ja, eine globale Pandemie haben wir ja auch gerade. Die ist an sich auch überhaupt nicht stressig.
Es ist nicht so, als würde die intrinsische Motivation nicht ausreichen. Niemand will hoffnungslos, ängstlich, sinnlos herumliegen und nichts tun. Das ist ja nicht lustig, sondern belastend. Die intrinsische Motivation, aufzustehen und Dinge zu tun, ist also da, nur fehlt ihr oft der Motor dahinter. Hier kommt die extrinsische Motivation ins Spiel. Manchmal ist es leichter, nicht für sich selbst, sondern für jemanden anderen aufzustehen und Dinge zu tun. Steh ich von mir aus vor 8:00 auf? Sicher nicht. Sitze ich wach und vorbereitet vor einer 8:00 Zoom-Vorlesung? Das geschieht schon viel eher. Ich glaube daher ist es sehr wichtig, auch in dieser Zeit den Schüler*innen ein paar Fixpunkte anzubieten. Videokonferenzen zu bestimmten Zeiten geben Routine und Sicherheit.
Aber auch diese Videokonferenzen sind nicht ideal. Microsoft Teams, Skype, Zoom, Colla-borate, Houseparty – die Optionen sind endlos und trotzdem kein Ersatz für echten „face to face“-Kontakt. Mimik und Gestik kommen über Video einfach nicht so klar hinüber wie im echten Leben, sind aber ein wichtiger Teil der Kommunikation. Ohne Videotelefonie geht es aber auch nicht, der Religionsunterricht ist inzwischen vor allem auf Kommunikation unter Schüler*innen ausgerichtet. Ohne Videotelefonie läuft der Religionsunterricht in Gefahr, über Arbeitsblätter zu einem reinen Sachunterricht zu verkommen. Arbeitsblätter nicht sachunter-richt-artig zu gestalten, ist schwer. Und der Religionsunterricht soll ja nicht nur Sachunterricht sein, sondern auch zur Persönlichkeitsbildung beitragen. Dazu ist Sozialkontakt einfach wichtig.
Und nicht nur für den Religionsunterricht, allein für den Menschen selbst sind Sozialkontakte unerlässlich. Aus biologischer Sicht sind wir Menschen Herdentiere. Aus theologischer Sicht sind wir Menschen alle Abbild Gottes, egal wie unterschiedlich sind. Wenn man also annimmt, dass das Abbild Gottes erst in der Differenz ist, erst in der Verschiedenheit der Menschen, dann bedürfen wir einander. Wir sind nicht dafür geschaffen, allein zu sein. Das gilt auch für psychisch kranke Menschen. Viele Menschen mit Depressionen isolieren sich, wenn sie ihre schlimmsten Phasen haben. Paradoxerweise entzieht man sich in den schlimmsten Phasen den Dingen, die man am meisten braucht. Jetzt durch Corona dazu gezwungen zu sein, die Muster zu wiederholen, die man sonst kämpft zu vermeiden, macht den Kampf gegen die Krankheit noch einmal schwerer.
Religionsunterricht in normalen Zeiten ist ein Ort, um gemeinsam zu sein, gemeinsam über die essenziellen Dinge des Lebens zu sprechen, das Leben, den Tod, den Umgang miteinander, Freude, Verlust etc., weil das Dinge sind, die wir einzeln nicht begreifen können. Und gerade in Zeiten einer Pandemie sind das Themen, die noch einmal betreffender sind, weniger vom Alltagstrott überschattet.
Studien zeigen: Wer gläubig ist, wird seltener depressiv. Das mag sein, hat bei mir aber offenbar nicht gegriffen. Aber selbst, wenn es sozusagen schon zu spät ist, der Glaube kann eine wertvolle Stütze im Kampf gegen psychische Krankheiten sein. Natürlich repariert der Glaube den Chemiehaushalt eines Gehirns nicht, genauso wenig, wie das Sport oder Sonne oder gesundes Essen allein tun. Doch der Glaube bietet eine Perspektive auf den Menschen, die heutzutage meiner Erfahrung nach ein wenig untergeht.
Wir vergleichen uns ständig mit anderen, ständig geht es darum wer die besseren Noten hat, wer die schönsten, neuesten Sachen hat, wer am meisten Sport macht, wer am meisten Geld verdient… Auch in Corona-Zeiten ist das nicht weniger geworden. Physical distancing zwingt einen geradezu, die sozialen Bedürfnisse über Social Media auffüllen zu wollen. Doch kaum ist man auf Instagram, wird man von Videos von Home-workouts, selbst gebackenem Brot und virtuellen Kaffeetreffen überhäuft. Warum sind ständig alle so produktiv? Bin ich die einzige, die in dieser Sondersituation nicht ihr ganzes Leben umkrempelt und verbessert, sondern gerade etwas weniger auf die Reihe bringt?
Der Glaube ist eine Erinnerung daran, dass Menschen zwar Großartiges vollbringen können, aber dass wir nicht großartig sein müssen, um Menschen zu sein. Im Christentum hat Gott uns mit allen unseren Stärken und Schwächen gerettet. Gott selbst ist zum Menschen geworden, ist für uns gestorben und hat unsere Sünden und Schwächen vergeben. Das ist ein sehr tröstlicher Gedanke. Der Glaube kann eine Stütze sein, die Gemeinschaft mit anderen Christen eine Erinnerung, dass man auch als Mensch mit psychischen Krankheiten immer noch ein ganzer Mensch, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ist.
Im Religionsunterricht kann ich als Lehrerin den Schüler*innen natürlich nicht den Glauben hübsch in einem Geschenk verpackt überreichen. Aber ich kann als Zeugin dieser Weltsicht auftreten. Ich kann lebendes Vorbild dafür sein, dass Gott nicht von uns verlangt, perfekt zu sein, schon gar nicht in Zeiten einer globalen Pandemie.