Brief von Bischof Ägidius J. Zsifkovics
Sei mutig!“ – Das ist das Motto des diesjährigen Weltgebetstages für geistliche Berufungen am Sonntag des Guten Hirten, dem vierten Sonntag in der Osterzeit. Es ist ein Aufruf, der nachdenklich macht. Denn hat uns nicht schon längst der Mut verlassen in unserem Land und in der westlichen Welt, was die Berufungen zum Priester- und Ordensleben angeht? Weder das Schönreden des Priestermangels noch das Jonglieren mit Statistiken, weder pastorale Schnellschüsse noch kirchliche Strukturkosmetik, weder Selbstmitleid noch der Rückzug in die religiöse Geborgenheit der Kleingemeinschaften konnten in den letzten Jahrzehnten über die eine große Tatsache hinwegtäuschen: dass man geistliche Menschen nicht produzieren kann wie Autokarosserien, dass man das tiefe innere Bekenntnis zu Gott nicht in kirchlichen Werkstätten drucken kann wie Banknoten. Was sollen wir also tun, was dürfen wir hoffen angesichts des weltkirchlichen Aufrufes „Sei mutig!“?
Wir leben in einer gewaltigen Umbruchsphase – kirchlich, gesellschaftlich, politisch, ökonomisch, aber auch im Hinblick auf die ganz persönliche Lebens- und Berufssituation der Menschen. Das hat Auswirkungen darauf, wie und unter welchen Umständen Menschen heute eine geistliche Berufung erfahren. Auch wir Bischöfe haben keine Patentrezepte, aber wir haben in Gemeinschaft mit allen Getauften die Aufgabe, Berufungen zu fördern in der Gewissheit, dass der Auferstandene immer an der Seite der Menschen geht und auch die heutige Krise geistlicher Berufungen überwunden werden kann. Denn das Wort „Mut“ besteht aus drei Buchstaben:
Erstens: M – wie Mikroskop.
Mikroskop steht dafür, das Kleine als Großes sehen zu können. Es ist immer Gott, der im unendlich großen Ganzen des Weltgefüges in die Seele eines jeden einzelnen Menschen sieht; und Er ist es auch, der Menschen beruft und dadurch groß macht. „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt“, sagt Christus, der gute Hirt, zu seinen Jüngern, und er sagt es zu uns allen. Doch Gott beruft nicht, um menschliche Systeme zu erhalten, er beruft nicht, um Strukturen zu verfestigen, sondern er beruft einzelne Menschen in den Dienst am Evangelium. Damit macht Gott im scheinbar Kleinen die ganze Welt immer wieder neu. Denn der Berufene ist nicht gerufen, sich selbst zu bringen oder die Interessen einer Firma zu vertreten, sondern der Berufene muss, wie Papst Franziskus es sagt, in das Evangelium verliebt und fähig sein, den Menschen immer mehr ein lebendiges Zeichen der barmherzigen Liebe Gottes zu werden. Der Berufene ist erwählt, zu seinen Mitmenschen aufzubrechen und sie an den Straßenkreuzungen ihres Lebens zu suchen, dort, wo der konkrete Mensch steht so wie er ist, mit seiner bunten Biografie und all ihren Schattenzonen, mit seinen größeren und kleineren Brüchen, mit seinen kirchlich nicht immer ganz stubenreinen Ecken. Die gemeinsame Berufung und Erwählung aller Christen durch Taufe und Firmung, die Bereitschaft so vieler Frauen und Männer, junger Menschen und Kinder in den Pfarren unserer Diözese selbstlos mitzuarbeiten, gibt mir den Mut, fest darauf zu vertrauen, dass in diesen vielfältigen Einsätzen – vom Pfarrgemeinderat bis zum Ministrantendienst – Gott selbst am Werk ist. Ihnen allen sage ich dafür ein herzliches Vergelt’s Gott!
Der zweite Buchstabe des Wortes „Mut“: U – wie Umgebung.
Geistliche Berufungen geschehen nicht in lebensfremden, abgehobenen Milieus, sondern überall um einen herum: in den Familien, Pfarren, Schulen, im Berufsalltag, im ganz konkreten Leben. Aber damit ein Mensch auf die Herausforderung Jesu aufmerksam hören und antworten kann, braucht er bestimmte Menschen und Rahmenbedingungen, durch die ihm der Anruf Gottes besser erfahrbar wird. Alle, die im kirchlichen Dienst tätig sind – als Religionslehrer in unseren Schulen, in den verschiedenen pastoralen Bereichen, als Schwestern und Brüder in den Orden, als Diakone, Priester und Bischöfe – müssen sich in Hinblick auf neue Berufungen stets fragen: Wo haben wir glauben gelernt? Was war ausschlaggebend, dass wir den Weg der Christusnachfolge gewählt haben? Was gibt uns tagtäglich die Kraft, unsere Berufung zu leben? Wer hat uns damals begeistert und dabei geholfen, die eigene Berufung zu entdecken?
Und noch etwas: Hinter jeder Berufung zum Priestertum oder zum geweihten Leben steht immer das starke Gebet eines anderen Menschen aus der Umgebung des Berufenen – einer Großmutter, eines Großvaters, einer Mutter, eines Vaters, der Tauf- und Firmpaten, der Pfarrgemeinde. Die ersten Gotteserfahrungen macht ein Mensch im Kreis der Familie, der wohl prägendsten aller Umgebungen. Die einfachen, dort praktizierten Lebensrituale, die wiederkehrenden Gebete in der Früh, am Mittagstisch oder abends, die Feier des Sonntags und der kirchlichen Feste, die Sakramente von Taufe, Erstkommunion, Firmung, Trauung und in der Krankheit machen bewusst, dass Gott selbstverständlich zum Leben gehört, und dass es zum Gelingen des Lebens den Einen braucht, der alles zusammenhält und den wir Gott nennen. Meine Bitte an Sie alle: Seien Sie Menschen, die echt, glaubwürdig und lebensnah, wenn auch nicht perfekt, diese
Gottesbeziehung leben! Seien Sie Dolmetscher für Gott im Sprachwirrwarr der Welt! Gott muss dort erfahrbar sein, wo Menschen leben! Nur wenn Sie authentisch sind, nehmen Ihnen auch die jungen Leute Ihr Christsein ab und werden es wagen, auch in ihren eigenen Lebensentwürfen Gott ins Spiel zu bringen. Und meine konkrete Bitte an die neugewählten Pfarrgemeinderäte: Denkt über geistliche Berufungen in euren Pfarren nach und sprecht offen darüber! Ermutigt die jungen Menschen zum Mittun im konkreten Leben der Pfarre und in den verschiedenen Diensten. Als Bischof möchte ich anregen, dass in jedem Dekanat einmal im Jahr ein Gottesdienst mit dem großen Anliegen für geistliche Berufungen gefeiert wird. Haltet die Möglichkeit dieser Berufswahl im Religionsunterricht, im Umfeld der Berufsfindung und im gemeinsamen Nachdenken in den Familien bitte lebendig und schließt sie nicht von vornherein aus! Seid eine fruchtbare Umgebung, in der Berufungen wachsen können! Als Priester, Diakone und Ordensleute, als Getaufte und Gefirmte, als Eltern und auch als Bischöfe müssen wir uns bewusst sein: Wir können keine Berufungen herbeireden, aber wir können dafür beten und jungen Menschen den Boden bereiten, indem wir ihnen vorleben, dass der Weg mit Gott ein erfüllter ist, ein Weg, den die Welt nicht bieten kann.
Der dritte und letzte Buchstabe des Wortes „Mut“: T – wie Turnschuhe.
Beim letzten Weltjugendtag 2016 in Krakau rief Papst Franziskus den Jugendlichen zu: „Verwechselt das Glück nicht mit einem Sofa, das uns hilft, es bequem zu haben, ruhig und ganz sicher zu sein, ein Sofa, das uns innerhalb unserer vier Wände bleiben lässt. Die Zeit, die wir heute erleben, braucht keine ‚Sofa-Jugendlichen’, sondern junge Menschen mit Schuhen, noch besser, mit Boots an den Füßen!“ Ich füge hinzu: Unsere Zeit braucht Christen mit Turnschuhen an den Füßen, weil Turnschuhe gleichzeitig für Bodenhaftung wie für Beweglichkeit und Freiheit stehen. Vor Jahren haben sich junge Menschen meist nach der Matura oder nach dem Berufsabschluss für einen Weg als Priester oder Ordenschrist entschieden. Heute geschehen diese Entscheidungen oft viel später, weil sich das gesamte Lebensprogramm des Menschen mit allen seinen Etappen und Facetten verändert und auch verlängert hat. Turnschuhe tragen heute – im wörtlichen wie im geistlichen Sinne – auch die reiferen Semester. In diesem Sinne gibt es keine „Spätberufenen“ mehr, ich möchte vielmehr sagen: Für Deine, für Eure Berufung ist es nie zu spät! Der Herr braucht freie Menschen mit Bodenhaftung, er braucht Dich, er braucht Euch! Und der Herr ruft Dich, er ruft Euch, einen jeden auf seine Weise, einen jeden an seinem Ort! Die Nachfolge Jesu ist zwar oft eine Herausforderung, aber sie ist keine Überforderung. Gott überfordert nicht! Er lädt Dich vielmehr ein zu träumen und will Dich sehen lassen, dass die Welt mit Dir anders sein kann. Berufung ist damit auch ein Risiko – so wie alle Lebenswege, die in dieser Welt eine Spur hinterlassen. Aber Jesus, der gute Hirt, ist der Herr dieses Risikos, nicht der Vertreter der Sicherheit und der Bequemlichkeit. Damit wirst Du mit deinen Fähigkeiten und Talenten, mit Deinen Schwächen und Ängsten, mit Deinen Freuden und mit Deinen Leidenserfahrungen eine Chance für die Zukunft der Menschheit, für die Zukunft unserer Kirche.
Der Aufruf Mut zu haben, ist in diesen Tagen ein dreifacher Aufruf an alle Christen. Es ist der Aufruf, sich selbst die Größe zuzumuten, als scheinbar mikroskopisch kleiner Mensch unter Milliarden Anderen von Gott persönlich gefunden und berufen zu werden. Es ist der Aufruf, anderen im eigenen Umfeld einen guten Boden zu bereiten, auf dem ihre Berufung wachsen kann. Und es ist der Aufruf, seiner eigenen Existenz Turnschuhe zu verpassen, das heißt: seine Tage in Freiheit zu ordnen im Bezogensein auf Gott. Weil jeder Mensch anders ist, gibt es Berufungen – so wie Turnschuhe – in jeder Größe, Form und Farbe. Entscheidend ist, den passenden Schuh für den eigenen Lebensweg zu finden und ihn auch anzuziehen.
Mit der Bitte um Euer inniges Gebet für geistliche Berufungen verbleibe ich mit meinen allerbesten Segenswünschen
+ Ägidius J. Zsifkovics
Bischof von eisenstadt